Oder: Ein Plädoyer gegen skurrile, veraltete Krankheitsbezeichnungen

Die Medizin befindet sich in einem ständigen Wandel. Längst ist es nicht mehr so, dass Diagnosen und Fachbegriffe ausschließlich den Doktoren vorbehalten sind und wir die gesamte Verantwortung für die Heilung des jeweiligen Leidens vollständig in deren Hände abgeben würden. Der mündige, gut informierte Patient ersetzt zunehmend das Bild des hilflos ausgelieferten Kranken. Dadurch wird die Medizin nahbarer; gesund zu bleiben und werden wird vielmehr zur gemeinsamen Aufgabe von Arzt und Betroffenem. Eine wichtige Erkenntnis, denn die bestmögliche Medizin kann meine Gesundheit nicht wiederherstellen oder erhalten, sofern ich beispielsweise an einem ungesunden Lebensstil festhalte. Der Patient übernimmt mehr Eigenverantwortung und erlangt ein besseres Verständnis über das entsprechende Krankheitsbild. Ärzte beziehen ihr Gegenüber mehr mit ein, erklären die medizinischen Hintergründe verständlich und auch der Betroffene selbst hat die Möglichkeit, sich über Bücher oder das Internet weitere anschaulich erläuterte Informationen einzuholen.

Süchtig nach Krankheit?

Vor diesem Hintergrund kann ich einfach nicht verstehen, warum wir in der alltäglichen Kommunikation unter Nicht-Medizinern nach wie vor Krankheitsbezeichnungen verwenden, die scheinen, als würden sie aus dem Mittelalter stammen. Insbesondere Wörter, die auf „-sucht“ enden, fallen mir dahingehend besonders negativ auf: Fallsucht (Epilepsie), Schwindsucht (Tuberkulose) und Wassersucht (Wassereinlagerungen, Ödeme). Zwar hat der Wortteil „Sucht“ hier seine frühere Bedeutung im Sinne von „Krankheit“. Jedoch entspricht das einfach nicht mehr dem, was wir heute im Alltag mit „Sucht“ assoziieren.

Müssten wir „Sucht“ mit einfachen Worten umschreiben, so könnte dies lauten: „das unstillbare Verlangen nach einer Substanz oder Verhaltensweise“.

In Anbetracht dieser Alltags-Definition gestatte ich mir nun, die Frage aufzuwerfen – ist eine Person, die an einer schweren Lebererkrankung leidet, wirklich süchtig danach, gelb zu sein? (Ikterus = Gelbsucht). Wenn man eine stark juckende allergische Hautreaktion hat, so bezweifle ich, dass man dann auch noch süchtig nach Brennnesseln und nach diesen schrecklichen Quaddeln auf der Haut ist. (Urtikaria = Nesselsucht). Wie bereits geschildert, kennt sich ein großer Teil der heutigen Patienten so gut mit seiner Erkrankung aus, dass er mindestens die korrekte Diagnosebezeichnung kennt. Möchten diese dann aber mit Bekannten darüber sprechen, müssen sie häufig zu derart abstrusen Begriffen greifen.

Nicht selten vermitteln die althergebrachten Bezeichnungen ein falsches Bild von der Erkrankung. Magersucht (Anorexia nervosa) bedeutet so viel mehr, als die Sucht danach, mager zu sein. Sie ist eine Verweigerung an das Leben, eine dysfunktionale Strategie sich vor überwältigendem Schmerz zu schützen. Weit mehr, als lediglich einem Körperideal nachzujagen. Hinzu kommt, dass nicht alle Betroffenen „mager“ sind. Auch eine Person im Normal- oder Übergewicht kann unter den typischen Symptomen leiden. Aufgrund des falschen gesellschaftlichen Bildes, geprägt durch die unglückliche Bezeichnung, wird diese Person jedoch noch größere Schwierigkeiten haben, offen über ihre Erkrankung zu sprechen. Kommentare wie „du siehst nicht mager aus“ können zutiefst verletzend sein.

Krankheit und Leid

Ein weiteres Beispiel ist die Epilepsie: Eine Erkrankung, die typischerweise auch in Aufnahmefragebögen vorkommt, wenn man sich zum ersten Mal bei einem neuen Arzt vorstellt. Die Frage lautet dann „Haben Sie ein Krampfleiden?“ Eine Erkrankung zu haben und darunter zu leiden, ist nicht dasselbe. Ich kann zwar Epilepsie haben, aber mit Medikamenten so gut eingestellt sein, dass mich die Krankheit im Alltag überhaupt nicht beeinträchtigt. Hier würde niemand von Leid sprechen. Leiden ist subjektiv. Zwei Menschen können dieselbe Diagnose haben und nur einer von ihnen leidet, vielleicht weil die Erkrankung für diese Person größere Veränderungen im Alltag bedeutet. Leiden zu verhindern, ist ja genau ein Ziel der modernen Medizin, man denke beispielsweise an palliativmedizinische Versorgung. In Betrachtung der obigen Beispiele brauche ich wohl nicht näher auszuführen, warum ich auch die Bezeichnung „Fallsucht“ für Epilepsie durchaus als merkwürdig erachte.

Bilder im Kopf

Manchmal ist das deutsche Wort auch einfach ein kleines bisschen zu explizit und bildhaft, finde ich. Durch meine beruflichen Erfahrungen im medizinischen Bereichen ist mir nichts Menschliches fremd, dennoch wallt mir eine gewisse Anwiderung durch den Körper, wenn ich den Begriff „Mutterkuchen“ (Plazenta) höre. Verstehen Sie mich nicht falsch, die Plazenta hat die entscheidende Rolle, das Ungeborene mit allem Lebensnotwendigem zu versorgen und es ist faszinierend, dieses Organ in der Hand zu halten. Aber die Assoziation mit Kuchen ist nun wirklich schauerlich.

Auch beim deutschen Wort „Ess-Brech-Sucht“ für Bulimie habe ich manchmal ein wenig das Gefühl von „too much information“.

Digital Future against sprachliches Mittelalter

In einer Zeit, in der die Digitalisierung fast täglich neue Fortschritte macht, globale Vernetzung sowohl im beruflichen wie im privaten Kontext eine immer größere Rolle spielt, wandelt sich auch die Sprache. Kommunikation wird um neue, nie dagewesene Kanäle erweitert, Anglizismen und Lehnwörter werden immer mehr Teil unseres alltäglichen Sprachgebrauchs, gerade bei den jüngeren Generationen. Allein die technische Entwicklung bringt neue Ausdrücke mit sich – was sonst ist ein „Zoom Meeting im Co-Working-Space“? Das zeigt uns also eindeutig, wir sind ganz schnell in der Lage, neue Begriffe zu verstehen, aufzugreifen und in den eigenen Wortschatz zu integrieren.

Da sollen ein paar medizinische Fachwörter, die längst veraltete, nicht mehr angemessene Termini ablösen, zu viel verlangt sein? In Anbetracht der geschilderten Verirrungen, die durch diese merkwürdigen Titulierungen geschaffen werden, erachte ich dies als zumutbar. Um Wörter beleidigend zu missbrauchen, funktioniert es schließlich auch prima, sich medizinischer Fachsprache zu bedienen. „Du Spast!“, um nur eines der „schizophrenen“ Beispiele zu nennen. Dies ist ein Plädoyer, von den korrekten medizinischen Diagnosenamen Gebrauch zu machen, um endlich irreführende Termini aus vergangenen Jahrhunderten zu ersetzen.