Inklusion fängt in den Köpfen an
von Thomas Müller
Es ist der 11. April 2023. Der erste Arbeitstag nach Ostern und der erste Werktag, an dem in Deutschland alle Corona-Schutzmaßnahmen als aufgehoben gelten. Während der gesamten Pandemie hatte ich es geschafft, mich nicht ein einziges Mal mit einem der Erreger anzustecken. Ich hatte die Maske gewissenhaft bis zum Schluss getragen. Als sie nur noch in Arztpraxen und ähnlichen Einrichtungen verpflichtend war, hatte ich sie auch beim Einkaufen, im Nahverkehr und in Restaurants angelegt. Schließlich wollte ich mir nicht in den letzten Zügen der Coronazeit noch eine ernst zu nehmende Krankheit einfangen. Noch weniger angenehm wäre zudem mein schlechtes Gewissen gewesen, falls ich mich oder andere infiziert hätte.
In der ersten Aprilwoche hatte ich mir den Anflug einer Erkältung mit leichten Kopf- und Halsschmerzen geholt. Zwei Tage hatte ich mich krankgemeldet, war aber trotzdem einkaufen gegangen und hatte einen dringenden Brief zur Post gebracht. Selbstverständlich mit Maske. Ein paar Tage später war ich glücklicherweise wieder fit.
Jetzt bin ich auf dem Weg zur Straßenbahn. Die Sonne scheint, und die Leute sehen entspannt und zufrieden aus, soweit ich ihre Gesichter erkennen kann.
Plötzlich muss ich heftig niesen und würgen. Ein blöder Zustand, in den ich behinderungsbedingt öfters komme. Normalerweise trage ich doch unter dem Kinn eine Maske, die ich so bei Bedarf schneller in Position habe als ein Taschentuch. Wo ist die denn? Ach ja: Heute habe ich ja zum ersten Mal seit langer Zeit keine mitgenommen. Mist!
Na gut. Vielleicht ist es auch besser so. Wahrscheinlich wäre ich weit und breit, die einzige Person mit freiwillig aufgesetztem Infektionsschutz. Und als überängstliche Außenseiterin möchte ich schließlich nicht gelten.
Die Bahn kommt, und ich steige ein. Prompt empfängt mich ein mehrstimmiges Hust- und Schniefkonzert. Klar: Dass die Zahl erkälteter Fahrgäste im öffentlichen Nahverkehr steigt, wenn die Viren wieder frei herumschwirren, war ja vorauszusehen. Wie überrascht bin ich jedoch, als ich auf dem Platz gegenüber einen jungen Mann sehe, dessen Gesicht mit einer klassischen FFP2-Maske bedeckt ist. Ein Einzelfall? Keineswegs! Auf dem Heimweg von der Arbeit begegne ich in der U-Bahn dem nächsten maskierten Fahrgast. Diesmal handelt es sich um eine ältere Dame Anfang Sechzig. Hat sich die Einstellung der Deutschen zum Thema Masken vielleicht mit der Zeit geändert?
In asiatischen Ländern herrscht schon lange ein ganz anderes Verhältnis zu Masken. Dies las ich kürzlich in einem Artikel auf japandigest.de. Nicht nur in Japan, auch in China, Taiwan oder Hong Kong gehören sie längst zum Alltag. Begonnen hatte alles mit dem Ausbruch der Spanischen Grippe 1918. Damals empfahl die Regierung das Tragen eines Mundschutzes. Galt er doch als einzige Abwehrmöglichkeit von Grippe-Erregern. Viele hielten sich daran. Andere unerwünschte Faktoren wie Pollenflug, Feinstaub oder Erdbeben sorgten über die Jahrzehnte dafür, dass der Mundschutz gesellschaftlich akzeptiert blieb. Inzwischen erfreut er sich in Asien aber nicht nur großer Beliebtheit, bei jenen, die sich leicht krank fühlen. Auch wer es morgens nicht schafft, sich zu schminken oder zu rasieren, oder wer Hautunreinheiten verbergen will, greift in asiatischen Ländern mitunter zur Mund-Nasen‑Maske. Manche setzen sie auch ein, um in Ruhe gelassen zu werden. Ein Symbolcharakter, der hierzulande bis jetzt nur durch Handys, Kopfhörer oder eine Kombination aus beiden bewirkt wird.
Im Laufe der kommenden Wochen begegnen mir immer wieder Mitmenschen mit Mund‑Nasen‑Maske. Sehr wahrscheinlich verspüren sie gerade den Anflug einer Erkältung, möchten ihr Tagespensum aber dennoch schaffen oder sind auf dem Weg zum Arzt. Und zusätzlich möchten sie sich und andere vor möglichen Keim-Übertragungen schützen. Noch vor etwa drei Jahren hätte die Mehrheit von uns über solchermaßen Maskierte sicherlich gedacht: „Oh Mann wie läuft der denn rum? Das sieht ja unmöglich aus!“ Mittlerweile schenkt den Masken niemand mehr Beachtung. Ich finde sowohl das Verhalten der leicht erkrankten Maskierten als auch das ihrer toleranten Mitmenschen sehr löblich. Zeigt es doch, dass sich in Deutschland durch die Pandemie einiges geändert hat.
Eine Maskenpflicht von langer Dauer, wie sie während der Corona-Pandemie in vielen Teilen der Welt galt, hat meiner Meinung nach zwei Seiten: Einerseits sichert sie die Bevölkerung gut in jener Phase, in der es für unbekannte Krankheitserreger noch keinen wirksamen Impfstoff gibt. Andererseits erweist sie sich aber auch als Herausforderung, um nicht zu sagen Zumutung, für all jene, die sich mit dem Anlegen der Maske deutlich schwertun oder dadurch Angstzustände empfinden. Ich bin froh, dass inzwischen keine allgemeine Maskenpflicht mehr herrscht und wünsche mir, dass es für lange Zeit nicht wieder zu pandemischen Verhältnissen wie den letzten kommen mag. Es macht mich aber auch glücklich, dass der Mundschutz nach der Pandemie nicht gänzlich außer Acht gelassen wird. Bis er bei uns so in den Alltag integriert ist wie in Asien, wird es sicher noch dauern. Doch ich glaube, Deutschland ist in dieser Hinsicht auf einem guten Weg und hoffe, dass es so bleibt.