Inklusion fängt in den Köpfen an
von Thomas Müller
In den Jahren 1990-93 da war ich vierzehn Jahre alt kam ich nach Banja Luka/Bosnien, um das achte Schuljahr machen zu können, und damit meinen Hauptschulabschluss zu erwerben. Zu meiner Schulzeit hatte man in Bosnien schon nach acht Schuljahren den Hauptschulabschluss.
Obwohl ich wieder nach Kroatien zurück wollte, war das leider nicht möglich, weil dort der Krieg schon ausgebrochen war. Deshalb kam ich in ein Internat mit einem kleinen Reha- Zentrum, in dem für körperbehinderte Menschen Krankengymnastik angeboten wurde. Da ich von Geburt an eine körperliche Behinderung habe, war das eine passende Unterkunft für mich. Als der Krieg voranschritt, wurde es nur noch eine Anlaufstelle für Kriegsverletzte
Meine Anfangszeit dort fand ich sehr gut. Neue Umgebung, neue Freundschaften. Zu dieser Zeit hatte ich weitere Pläne; nach meinem Hauptschulabschluss in Banja Luka weiter nach Kroatien zugehen, um dort eine Ausbildung zu machen. Leider kam es ganz anders, als ich dachte.
Etwa ein halbes Jahr danach breitete sich von Kroatien auch der Balkankrieg langsam aber sicher nach Bosnien aus. Aus den Medien ließ sich heraus hören, dass die serbische Regierung mit orthodoxer Religion einige Städte Bosniens für sich einnehmen wollte. In Bosnien lebten Menschen mit drei verschiedenen Religionsarten: Muslime, Orthodoxen und die kleinste Religionsgruppe Katholiken, zu der ich gehöre. Nur um den ganzen Religions-Krieg von damals etwas klarer da zu stellen: Alle drei Religionen bekriegten sich gegenseitig. Eine Religion wollte Teile Bosniens für sich gewinnen. Zu dieser Zeit befand ich mich als Katholikin am falschen Ort, als die Orthodoxen versuchten Banja Luka zu erobern.
Die Zeit des Schreckens begann mit regelmäßigen Stromausfällen, die uns allerdings nicht daran gehindert haben, uns auch im Dunkeln des Flures zu Treffen. Die Abende waren mir und meiner Clique sehr wichtig, weil wir uns alle versammelt haben, um den Tag Revue passieren zu lassen, über die Lehrer her zu ziehen und auch über den Schulstoff an diesem Tag zu diskutieren oder einfach Gesellschaftsspiele zu spielen, wobei Gesellschaftsspiele im Dunkeln auch kein Thema mehr waren. Wir wollten uns von der Dunkelheit nicht vertreiben lassen, obwohl das Ganze etwas Unheimliches hatte: Bei Kerzenlicht und Feuerzeugflamme im kaltem Flur zu sitzen und sich zu unterhalten, hier und da ein Witz zu erzählen, in ein kollektives Gelächter auszubrechen, wurde nach einiger Zeit für uns „Normalität.“ Das was sich außerhalb der Internats Mauern abspielte und zur traurigen Wirklichkeit wurde, bekamen wir innerhalb des Internats nur in abgespeckter Art zu spüren.
Es war Winterzeit. Strom hatten wir nur Stundenweiße, eine warme Mahlzeit pro Tag war eine reine Glückssache. Gott sei Dank, gab es Brot zu genüge. Das war das einzige, das ich essen konnte, was aber zur Folge hatte, dass ich aufgegangen bin wie ein Hefekuchen. Das war für mich als vierzehnjährige ein zusätzlicher Weltuntergang, wirklich viel zugenommen zu haben. Ich war breiter als höher. Jeden Mittag saß ich über dem Teller mit gesenktem Kopf, die Tränen liefen mir übers Gesicht und landeten im Inhalt des Essens. Ich spürte wie mein Magen sich zusammenzog und ich kämpfte damit, dass das was ich am Morgen gegessen habe nicht in diesem Moment zum Vorschein kommt. Um der ganzen Situation zu entkommen, lief ich schnell nach draußen, um mich dort zu übergeben.
Ich hatte Hunger. Mit jedem neuen Tag hatte ich noch mehr Hunger, was mich zum Wahnsinn trieb. Aber die tägliche, gleich bleibende Bohnensuppe mit gratis lebenden, weißen, dicken proteinreichen Würmer, die sich an der Wasser Oberfläche im Teller so lebendig bewegten, als ob sie mit mir kommunizieren wollten, um mir noch verständlicher zu machen, das sie die Einzige kaum warme Mahlzeit sind, die angeboten werden konnte, bekam ich einfach nicht in meinen Mund. Dass ich die Würmer lebendig im Teller sah, könnte auch da dran liegen, dass ich vor lauter Hunger vielleicht etwas sah was nicht der Wahrheit entsprach. Die Bohnensuppe war warm, dem entsprechend auch gekocht.
Es gab Momente wo ich dachte: „Lieber Gott, was habe ich verbrochen, um mich nur vom Brot, was mich dick werden lässt und von Bohnen mit lebendigen Würmern ernähren zu müssen?“ Eine Antwort bekam ich nicht.
Nach den Stromausfällen wurde das Warmwasser auch noch reduziert. Es war nur jeden zweiten-dritten Tag für eine Stunde vorhanden. Wer schnell genug war, hatte das Glück mit warmem Wasser zu Duschen oder zu Baden. Ich zählte nicht dazu. Ich hatte mich schon daran gewöhnt unter der Dusche zu zittern. Hauptsache Duschen, darauf kam es an.
Die Nächte häufen sich in denen Sirenen über der ganzen Stadt heulten, um uns davor zu warnen einen sicheren Platz zu suchen, weil die Stadt und Umgebung wieder bombardiert wurde. Viele Nächte verbrachte ich in Klamotten samt Schuhen, halbsitzend, angelehnt an der Wand im Halbschlaf, um bereit zu sein nach Sirenen -Geheule so schnell wie möglich in den Bunker zu kommen. Dort saßen wir mehrere Stunden, begleitet von Angst und Ungewissheit, wann und ob wir je aus dem Versteck raus kommen werden.
Von Tag zu Tag verschlechterte sich die Lage außerhalb des Internats wie auch im Internat selbst. Es kamen immer mehr verwundete Männer direkt von der Front, bzw. aus dem Krankenhaus zu uns zum rehabilitieren. Meiner Meinung nach brauchten diese erstmal einen guten Psychologen, der ihnen hilft mit der neuen Situation, in der sie waren zu Recht zu kommen. Jeder Mann, der zu uns kam war verbittert, wütend, aggressiv, körperlich wie auch seelisch verletzt. Was nachvollziehbar war, weil sie auf einmal ohne Beine, Arme, manch einer sogar sein Augenlicht verloren hat oder im Rollstuhl gelandet ist. Ihre Wut haben sie an uns allen ausgelassen. An Ärzten, Pfleger/innen und dem übrigen Personal. Eines Morgens kam eine Pflegerin wie jeden Morgen zur Arbeit und sagte, dass man sie mit einem anderen Namen ansprechen soll. Wir alle waren verwundert, warum sie auf einmal einen anderen Namen hat. Sie selbst hatte auch nicht mehr dazu gesagt. Wir haben später von anderen gehört, das diese Pflegerin tatsächlich offiziell einen neuen Namen hat. Sie hatte ursprünglich einen muslimischen Namen. Bis zum Anbruch des Krieges war Ihr muslimischer Name gar kein Problem. In Bosnien kann man anhand des Vornamens erkennen welcher Religion jemand angehört. Sie wollte dort weiterhin arbeiten und musste sich den veränderten Gegebenheiten anpassen. Nach ihr haben auch andere Ärzte und Pfleger ihren Namen geändert.
Unter uns behinderten Menschen waren auch zwei muslimische Schwestern dort. Irgendwann verschwanden sie. Wir hörten, dass sie ausgetauscht wurden gegen zwei orthodoxe verwundete Männer. Zu dieser Zeit wurde Menschentauch wie ein Warentauch betrieben. Ich hoffte davon verschont zu bleiben, wobei sich ab diesem Zeitpunkt auch bei mir Angst und Unwohlsein verbreiteten. Von Minute zu Minute immer mehr.
Eines Nachmittags saß ich draußen alleine vor dem Internat, da kam einer von diesen verwundeten Männern mit Krücken, ohne Bein und um zwei Köpfe größer als ich und stellte sich mir direkt gegenüber. Obwohl ich Angst hatte, schaute ich kurz zu ihm auf, und erstarrte… wenn Blicke töten könnten, wäre ich längst tot. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Es kam mir so vor, als könnte er mit seinen Augen tödliche Pfeile in meine Seele abfeuern. Sein Blick war so hasserfüllt, und voller Zorn. Ich fing gedanklich an zu beten und rief den lieben Gott um Hilfe. Er fragte mich nach meinem Vornamen, wie auch nach meinem Familiennamen, die Gott sei Dank beide auch bei den Orthodoxen Namen vorhanden waren.
„Bist du Katholisch?“ Vor dieser Frage hatte ich am meisten Angst. In diesem Moment blieb mir sogar kurz die Luft zum Atmen weg. Ich drehte mich zu Seite, um mich zu sammeln und gleichzeitig zu Überlegen das Richtige zu sagen. In diesen Moment wurde mir klar, dass mein Leben auf der Kippe steht. Ich bat den lieben Gott noch mal um Hilfe, was ich jetzt sagen sollte. Als Antwort bekam ich: Sag, dass du Orthodox bist. Das tat ich auch. Der Mann grummelte: „Du hast Glück“ Er drehte sich um und ging. Die anspannende Last fiel von meinen Schultern. Er verschonte mich, ich durfte da bleiben. Ich war erstmal außer Gefahr.
Bild von Gerald Simon auf Pixabay