Inklusion fängt in den Köpfen an
von Thomas Müller
Es ist kurz vor Weihnachten. Ich sitze im rappelvollen ICE Richtung Norden und freue mich schon auf den Besuch bei meiner Familie. Wenigstens kann ich auf der Fahrt schon ein bisschen entspannen. Mit dem armen Zugpersonal möchte ich heute nicht tauschen.
Der Herr, der mir gegenüber sitzt, scheint noch nicht im Weihnachtsmodus angekommen zu sein. Vor sich auf dem Tisch hat er alles ausgebreitet, was die Firma Apple an neuen Nettigkeiten herzustellen vermochte. Hektisch spricht er in das Headset seines iPhones und malträtiert mit atemberaubender Geschwindigkeit die Tastatur seines MacBooks. Plötzlich erscheint, wie ein Mensch gewordenes Popup, eine Speise- wagenbegleiterin an seiner Seite, legt ihm demonstrativ eine Rechnung auf den Tisch und verschwindet von der Bildfläche. „Einen Moment“, sagt der Geschäftsmann in leicht genervtem Ton zu ihr. „Ich komme gleich zu Ihnen.“ Sofort haben für ihn allerdings wieder die geschäftlichen Belange Priorität. Irgendwie kommt mir das arme Speisewagenhascherl vor wie ein Kind, das mit der Aussage „Ja, ja, Papa spielt gleich mit dir“ abgefertigt wurde.
Als nach fünf Minuten immer noch alles beim Alten ist, nähert sich die junge Frau wieder ihrem Gast und erklärt: „Ich muss jetzt aber mal so langsam kassieren.“
„Aber Sie sehen doch, dass ich in einer Telefonkonferenz bin,“ ruft der Herr verärgert.
„Wenn Sie nicht wollen, dass ich Sie an Ihrem Platz aufsuche, hätten Sie nicht aus dem Bordrestaurant gehen dürfen,“ rechtfertigt sich die Speisewagenbegleiterin.
„Gut,“ seufzt der Kunde ergeben. „Dann hätte ich gern noch einen Cappuccino.“ Als sie verschwunden ist, um die Bestellung weiterzugeben, schüttelt er den Kopf und erklärt seinem Gesprächspartner, der die Unterbrechung wohl mitbekommen hat: „Ach, die vom Speisewagen war das. Ja, ja, die Bahn gibt mal wieder Vollgas…“
Was ist hier passiert? Die beiden Akteure in diesem kurzen Schauspiel laufen wahrscheinlich den ganzen Tag nur mit Scheuklappen herum. Dem Herrn aus dem mittleren Management ist es wichtig, sein Projekt während der Reise zeitnah unter Dach und Fach zu bringen und nebenbei zu frühstücken, was ihm Zeit spart. Die Servicekraft möchte in erster Linie alle Kundengeschäfte zügig abschließen und sichergehen, dass keiner ihrer Gäste den Zug verlässt, ohne zu bezahlen. Außerdem ist sie eigentlich nicht befugt, Fahrgäste der zweiten Klasse am Platz zu bedienen und muss sich an diese Statuten halten, da ihr sonst Sanktionen drohen würden.
Eigentlich könnten beide etwas mehr Verständnis und Empathie füreinander aufbringen. Empathie – so nennt man eine Eigenschaft, die heutzutage immer weniger Menschen besitzen. Viele übersetzen Empathie mit Mitleid oder Mitgefühl. Damit ist es aber bei Weitem nicht getan. Wer bei Filmen wie „Titanic“ weint, oder eine Mutter, deren Nachwuchs an Plötzlichem Kindstod starb, mit den Worten tröstet: „Schon schlimm; meine Mutter ist jetzt auch mit 82 Jahren gestorben,“ der zeigt keine Empathie. Von ihr spricht man, wenn ein komplettes Sich-Hineinversetzen in das Gegenüber gelungen ist und man diese Person durch sein weiteres Handeln auch unterstützt.
Ich bin glücklich und stolz, auch über ein Beispiel berichten zu können, in dem die Kommunikation dank Empathie geglückt ist:
Kurze Zeit nach dem Vorfall mit der Speisewagenbegleiterin steigt ein junger Mann in den ICE und zeigt vorschriftsmäßig sein Onlineticket zur Kontrolle vor. Schon bald gibt es Probleme. Beim Drucken ist wohl die Tinte ausgegangen, und der Barcode ist nicht lesbar.
„Passen Sie auf,“ erklärt die Zugbegleiterin, eine erfahrene Frau vom alten Schlag. „Ich sehe ja, dass Sie nicht schwarzgefahren sind. Ich stelle Ihnen jetzt eine Bescheinigung aus, die als vorläufige Fahrkarte gilt. Und dann gehen Sie in den nächsten Tagen in eines unserer Kundencenter, weisen sich mit Ihrem Account aus und lassen sich bestätigen, dass Sie für heute diese Fahrkarte hatten. Sie müssen dann nur eine kleine Bearbeitungsgebühr zahlen.“
„Aber wie soll das denn gehen?“ jammert der junge Mann. „Das Ticket hat meine Freundin mit ihrem Bahnkonto gekauft und mir gemailt. Ich kenne doch die Zugangsdaten gar nicht. Ach Mensch, und da wollte ich einfach nur die Weihnachtstage unbeschwert mit ihr verbringen!“
„Wissen Sie was?“ lächelt die Zugbegleiterin plötzlich. „Ich habe da eine Idee.“ Rasch zückt sie ihr Diensthandy und ruft eine betriebsinterne Hotline an. Zügig schildert sie das Problem, gibt die Kundendaten durch, die noch deutlich lesbar ausgedruckt wurden, wie den Namen des Kunden und das Kaufdatum. Außerdem nennt sie ihren eigenen Namen und eine Art Personalnummer, verbürgt sich also praktisch für den Fahrgast. Dann bittet sie ihren Gesprächspartner, ihr zu bestätigen, dass die Fahrkarte gekauft wurde. Außerdem soll ein Vermerk erfolgen, dass das Ticket genutzt wurde, auch wenn es nicht abgescannt werden konnte. „So, das hätten wir dann erledigt,“ sagt sie anschließend zu dem jungen Fahrgast. „Ich wünsche Ihnen noch schöne Weihnachten.“
„Danke sehr“, freut sich dieser. „Danke für das schöne Weihnachtsgeschenk.“
Hier haben zwei Leute definitiv verstanden, was das Problem des anderen ist.
Dem Fahrgast hätte es sicher nichts genutzt, wenn er herumgebrüllt und auf die
Bahn geschimpft hätte, anstatt sich kooperativ zu verhalten. Richtig positiv
aufgefallen ist mir allerdings das Benehmen der Zugbegleiterin, die den Kunden
nicht mit „Dienst nach Vorschrift“ gegängelt hat, dem Betriebskodex aber
trotzdem treu geblieben ist und alles auf weihnachtliche Weise ein bisschen
lockerer gesehen hat. So etwas nenne ich Empathie. Solches Verhalten müsste
eigentlich an der Tagesordnung sein. Dann würde die Hälfte aller Konflikte gar
nicht erst entstehen.