Kollision
von Martin Hofmeister
„Gerome…Gerome, wo bist Du?“
Immer, wenn man den Bengel braucht, treibt er sich irgendwo herum. Der Professor schlurft schwerfällig vom Flur in sein Arbeitszimmer zurück. Der große Raum ist vollgestellt mit Dingen, die sich im Laufe von Jahrzehnten dort angesammelt haben. Es sind nur noch schmale Pfade zwischen wandhohen Bücherregalen, Topfpflanzen und ausgestopften Tieren frei. Er lässt sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen, schiebt achtlos Berge von Papier, Zeitschriften und Büchern beiseite und zieht eine in die Jahre gekommene Tischpendeluhr zu sich heran. Schnelle Schritte sind aus dem Flur zu hören, in der Tür taucht ein kleiner, drahtiger junger Mann auf und kommt vor dem Schreibtisch zum Stehen. „Sie haben gerufen, Herr Professor, was kann ich für Sie tun?“ „Da bist du endlich, Bursche, wo hast du denn gesteckt? Na, ist auch egal. Kannst du mir den kleinen Schraubenzieher für die Pendeluhr geben? Ich weiß nicht, wo ich das vermaledeite Teil hingetan habe und möchte, sehen, wie es im Inneren der Uhr ausschaut.“ Gerome verdreht die Augen. “Herr Professor, sie haben doch gestern schon die Uhr aufgeschraubt. Ich vermute, es hat sich nichts verändert über Nacht. Der Schraubenzieher ist wie immer in der mittleren Schublade Ihres Schreibtisches. Brauchen sie sonst noch etwas? Ich würde dann wieder in den Keller gehen und an unserer Erfindung weiterarbeiten.“ „Ja, ja, geh nur“, brummt der alte Mann tief gebeugt über die Uhr und ohne aufzublicken.
„Gerome…, Gerome, wo bist Du jetzt schon wieder?“ Der Professor steht im Flur. Eilige Schritte kommen die Treppe herauf und Gerome erscheint am Absatz. „Was ist jetzt schon wieder los, Herr Professor“, fragt er atemlos. „Ich brauche kurz deine Hilfe, Bursche. Mir ist eine Schraube der Uhr runtergefallen und ich kann dieses verflixte Teil nicht mehr finden. „Da ist sie doch, sie hängt an Ihrem Pantoffel“, Gerome bückt sich und hebt die kleine Schraube auf. „Wie ist sie da nur hingekommen?“, wundert sich der Professor, streckt die Hand aus und geht langsam mit der Schraube zurück an seinen Schreibtisch.. Gerome bleibt in der Tür stehen und blickt ihm besorgt nach.
„Wie soll das nur weitergehen?“, murmelt er zu sich selbst.
Im Keller steht Gerome in einem spärlich beleuchteten Raum und hantiert an einem unheimlich anmutenden Gefährt herum. An den Wänden hängen Sägen, Hammer, Zangen, Feilen und noch viele andere Werkzeuge. Über einem Arbeitstisch mit unzähligen Schubladen, der die gesamte Länge des Raumes einnimmt sind etliche Zeichnungen von Fahrzeugen, die aussehen wie das, an dem Gerome arbeitet, angebracht. Plötzlich hört er ein dumpfes Poltern von oben. Er lässt alles fallen, rennt zu Tür, die Treppe hoch, zum Arbeitszimmer des Professors.
„Gerome…Gerome, wo bist Du? Ich brauche deine Hilfe“, ruft der Professor. „Ich bin schon da!“, sagte Gerome, erscheint in der Tür und fragt: “Was ist jetzt schon wieder?“ Im selben Augenblick erkennt er das Problem des Professors, der unter einem Stapel Bücher begraben am Boden liegt. „Was haben sie denn gesucht?“, fragt der Junge, während er den korpulenten Mann mit großer Anstrengung unter den Büchern hervorzieht. „Ich dachte ich hätte ein Buch, in dem die Lösung für das Problem unserer Erfindung steht“, ächzt der Professor. „Zeigen Sie mal!“, erwidert Gerome und greift nach dem Buch, das der Professor noch umklammert hält. „Ist es das, wonach Sie gesucht haben? Ich werde mal nachschauen, ob ich die Lösung darin finde. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“ Der Professor geht vorsichtig zurück an seinen Schreibtisch. „Nein, nein, ich komme schon zurecht“ seufzt er, lässt sich auf seinen Stuhl sinken und vertieft sich wieder in die Arbeit an seiner Pendeluhr. Zurück im Keller sieht sich Gerome das Buch an. Traurig stellt er fest es ist ein Comic.
Oben im Arbeitszimmer bastelt der Professor an der Uhr herum. Auf einmal steht er auf und geht mit dem Schraubenschlüssel in der Hand zu einer Steckdose in der Ecke des Raumes. Dort liegt ein Kabel am Boden. Er hebt es auf und steckt den Stecker in die Steckdose. Mit dem anderen Ende geht er zurück zur Uhr auf dem Tisch. Er sucht eine Öffnung, in die er das Kabel stecken kann.
„Halt!“ Gerome rennt auf den Professor zu, reißt ihm das Kabel aus der Hand und zieht es aus der Steckdose. „Was hatten Sie denn vor? Zum Glück bin ich noch rechtzeitig gekommen. Ich wollte nach Ihnen sehen, weil ich mir Sorgen gemacht habe, dass ich schon eine Stunde nichts mehr von ihnen gehört habe. Das war ja im letzten Augenblick! Lassen Sie lieber die Experimente.“ „Warum?”, fragt der Professor, „das ist doch mein Leben!“
„Gerome…Gerome, komm schnell!“ Der alte Mann sitzt am Schreibtisch, vor ihm die Uhr in ihre Einzelteile zerlegt. Er lauscht auf die vertrauten Schritte im Flur, aber nichts passiert. „Immer, wenn man den Burschen braucht, kommt er nicht.“, schimpft der Professor. Schließlich stemmt er sich aus dem Stuhl hoch und schlurft durch sein chaotisches Arbeitszimmer in den Flur. „Gerome…, Gerome, wo bist Du?“, ruft der Professor. Doch es passiert nichts. Der Professor gelangt zur Treppe und macht sich langsam an den Abstieg in den Keller. Stufe für Stufe steigt er tiefer hinab. Unten angekommen müssen sich seine Augen an das wenige Licht gewöhnen. „Vielleicht sollte ich doch hellere Birnen einschrauben lassen“, ärgert er sich. Er kommt zur Werkstatt, die Tür steht offen. Er betritt den Raum. In der Mitte des Zimmers steht ein merkwürdiges Gebilde mit Greifarmen und einer Luke auf dem Dach. Aus dem Inneren kommt ein Klopfen von Metall auf Metall. „Gerome, bist Du das?“, fragt der Professor vorsichtig. In der Luke erscheinen zuerst der Kopf, dann der Oberkörper und zuletzt die Beine eines jungen Mannes. „Gerome?“ „Ja, ich bin es. Ich glaube, ich habe es geschafft, die Erfindung ist fertig!“, freut er sich und klettert von dem Fahrzeug herunter. „Was machen Sie denn hier?“ Der Professor antwortet nicht. Er kann sich nicht von dem Anblick des Gefährts vor ihm losreißen. Gerome tritt neben ihn, gemeinsam bestaunen sie das Werk. “Unser Amphibienfahrzeug, Herr Professor!“ Der alte Mann legt Gerome seinen Arm um die Schulter und drückt zu. „Gut gemacht mein Junge, ich bin stolz auf Dich!“
Mit dieser Kurzgeschichte möchte Autor Jasper Gaude darauf aufmerksam machen, wie wichtig es ist, dass wir uns so akzeptieren wie wir sind. Das bedeutet im Falle des Professors, dass er annimmt, dass er nicht mehr alles so selbständig leisten kann, wie früher. Eine entsprechende Entwicklung ist der Figur daher sehr zu wünschen. Vielleicht folgt ja bald schon eine Fortsetzung, wo wir mehr darüber erfahren.